Unsere Menagerie

Von Henny Koch

Es war ein großer Tag heute.

Das ganze Dörfchen war in Erregung, soweit es wenigstens die Schulbänke noch drückte. Mittwoch – dritter Ferientag. Keine Schule! Dafür –

Große Menagerie-Vorstellung
Auf dem Hofe des Pfarrhauses. Von 2 bis 6 Uhr nachmittags.
Besuch dringend erwünscht.
Preis: Drei Pfennige die Person.
Erlös zum Besten der Armen! G.M.E.

Große weiße Zettel in kalligraphischer Reinschrift, an allen Lampenpfosten und Gartenzäunen angeklebt, kündeten das seit Tagen. Die geheimnisvollen Buchstaben G. M. E. bedeuten keineswegs: Große Menagerie-Eröffnung oder dergleichen, wie man vielleicht hätte denken können. Sie bedeuteten: Gustav, Marie und Erich. So hießen die Veranstalter des großen Unternehmens, und sie waren die drei Pfarrkinder im Dorfe.

Mit dem Vater hatten sie vor Wochen eine durchziehende Menagerie im nächsten kleinen Städtchen besucht. .

Der Traum ihrer Nächte und ihrer Tage war seitdem, eine ebensolche Tierschau daheim zu veranstalten.

Auf Löwen, Tiger und Bären verzichteten sie dabei weislich.

“Wir zeigen bloß deutsche Tiere,” meinte Gustav patriotisch.

“Sie täten sich doch bloß fürchten,” sagte Mariechen altklug. Sie dachte an die Dorfkinder dabei.

Der kleine Erich sagte nichts. Er war stets mit allem einverstanden, was die großen Geschwister bestimmten. Die Geschwister waren also einig, einig auch in der Begeisterung für ihren Plan. Nun galt es, dem Vater und die Mutter dafür zu gewinnen.

Vater wollte ganz zuerst nichts davon hören. Er hatte allerlei Bedenken. Mütterchen war eher zugänglich. Mit ihrem Beistand gelang es dann schließlich, Vaters Erlaubnis zu erhalten.

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“Sollst sehen, Vater, es wird wundervoll,” sagte Gustav begeistert.

Vater lachte in sich hinein. Er sagte aber nichts.

“Laßt’s uns doch für die Armen tun,” schlug Mariechen vor. “Die tun mir immer so gräßlich leid.” Das frische, lustige Gesichtchen sah dabei ganz weinerlich aus.

Vater strich seinem Töchterchen über den Scheitel.

“Na, dann meinetwegen. Zeigt mal, was ihr fertig bringt. Ich zeichne fünfzig Pfennig für das Unternehmen. Mutter tut vielleicht auch etwas.”

Mütterchen stand nicht zurück. Die drei Unternehmer konnten also über das Kapital von einer Mark verfügen.

Und nun folgte ein fröhliches geheimnisvolles Tun und Treiben.

“Nichts wird verraten,” hatte Gustav gesagt. “Alles muß Geheimnis bleiben, dann ist die Überraschung um so größer.”

Mariechen und Erich hatten jubelnd zugestimmt.

Bruder Gustav war ja die Seele des Ganzen. Er hatte so hochfliegende Pläne, daß Mariechen und Erich oftmals die Mäulchen vor Staunen offen standen, und die Augen groß und rund wurden.

Ob auch für Mütterchen alles Geheimnis blieb, war mit vollkommener Sicherheit nicht zu sagen.

Jedenfalls sah man so mancherlei über den Hof schleppen und drüben hinter dem Zelt verschwinden, wovon nicht anzunehmen war, daß es ohne Mütterchens Erlaubnis geschehen konnte.

Das Zelt war mit teilweiser Benützung eines alten Schuppens aus eingerammten Bohnenstangen und drübergehängten alten Tüchern hergestellt. Soviel war sichtbar. Was hinter den Zeltwänden der Vollendung entgegenreifte, blieb allen Augen verborgen.

Seit dem Sonnabend nachmittag die Ferien begonnen hatten, herrschte dort fieberhafte Tätigkeit. Alles Vorhergehende war nur langsames Vorbereiten gewesen.

Vater hatte die Bedingung gestellt, daß mit den Ferien erst die Sache eigentlich in Angriff genommen werde. Seufzend hatten die Unternehmer sich gefügt. Bis dahin war noch beinahe eine Woche. Das war doch entsetzlich lang. Länger aber als bis zum dritten Ferientag wartete man keinesfalls. Da mußte alles fertig sein. Und es war fertig.

Mittwoch morgen noch gab es ein aufgeregtes Herumwirtschaften im Zelt.

Verworrene Geräusche aller Art, Hämmern, Sägen, Stampfen, Rutschen schallten über den Hof. Dazwischen Tierlaute in Lust und Leid – sämtliche Haustiere hatten eine schlimme Zeit eben – menschliche Stimmen redend, lachend, zornig, erregt oder beschwichtigend.

Beim Mittagessen große Unruhe, wenig Appetit trotz Reisbrei und Pfannkuchen, der sonstigen Lieblingsspeise. Aufgeregtes Hin und Her danach, und dann – dann war der große Augenblick da!

Zwei Uhr! Am Hoftor drängten sich bereits seit einer Viertelstunde allerlei Schaulustige. Die Kleinen und Kleinsten des Dorfes.

Immer mehr gesellten sich dazu. Große Schuljugend, peilend, die Hände in den Hosentaschen. Schulmädchen zu Paaren, in Reihen, kichernd, verschämt, eine die andere vordrängend und stoßend. Sie sahen drinn im Hof den Herrn Pfarrer mit seiner Frau aus dem geheimnisvollen Zelt herauskommen.

Lachend gingen beide über den Hof und ins Haus.

Mit dem Verklingen des zweiten Schlags auf der Turmuhr setzte drinnen vom Zelt her ein ohrenzerreißender Lärm ein. Der Eröffnungsmarsch der Kapelle! Drei Instrumente ließen sich unterscheiden: eine Trompete, eine Trommel und Pauken – zwei Blechdeckel, die Kathrine in Anbetracht des guten Zwecks einem gewissen Untergang geweiht hatte.

Der Marsch war verklungen. Statt dessen tönten nun sehr erregte Tierlaute vom Zelte her.

Musik geht ja der vierbeinigen Kreatur meistens auf die Nerven.

Da kam Erich über den Hof gelaufen und winkte aufgeregt.

Er trug eine große rote Schleife an der Schulter und auf dem Kopfe eine Mütze, wie man sie in Knallbonbons findet. Er sah sehr festlich und fremdartig aus.

“Ihr sollt kommen, schnell, ihr sollt kommen!’.

Er war ganz außer Atem vor Erregung.

Ein paar der Kühnsten schoben nun vor. Da war der Bann gebrochen. Alle drängten nach. Es hatte sich inzwischen eine ganz ansehnliche Schar angesammelt. Sie stürmten beinahe die Kasse.

menagerie02Mariechen, die das Amt des Kassierers versah, geriet in Gefahr, samt Tisch und Sitz und Geldkasten über den Haufen gerannt zu werden.

Mariechen sah sehr niedlich und schmuck aus in der frisch gewaschenen weißen Schürze, der Korallenkette und dem roten Tüchelchen, das ihr die Mutter als festlichen Kopfputz sehr malerisch um die schwarzen Zöpfe gebunden hatte.

“So werft mich doch nicht um,” sagte Mariechen zu den Drängenden. “Ihr kommt alle hinein. Hier sind die Eintritts-Billetten.”

Mariechen sagte “Billetten”. Weshalb wußte sie selbst nicht. Es kam ihr bloß feiner vor als Karten.

Erich unterstützte Mariechens Mahnung durch einige gutgemeinte und leichtverständliche Rippenstöße. Er war offenbar der Festordner.

Große und kleine, saubere und schmutzige Hände und Händchen streckten sich nun gegen Mariechen aus.

Die hatte ihre liebe Not, die bedungenen Pfennige in Empfang zu nehmen und dafür die versprochenen “Billetten” auszuteilen.

Kleine, viereckige Stückchen braunes Packpapier, auf denen stand:

Eintrittskarte zur Menagerie
Nummer 7.

Die Nummern waren fortlaufend.

Mariechen gab eben Nummer 21 aus. Sie strahlte dazu, denn es standen noch fast ebensoviele da, die auf weitere Karten warteten.

Die lieben Armen. Da konnte man ihnen doch mal was Gutes tun!

“Weis’ emol her !” rief ein großer Junge von hinten und nahm ohne Umstände einem kleinen Mädchen das eben Erhaltene aus der Hand.

“Deß soll e Billett sein? Ei deß is weiter nix als e Stickelche Babier, wo der Erich drufgekritzelt hot. Ich kenn dem seine Krakelfieß.”

Geringschätzig ließ er die Mundwinkel hängen.

Das kleine Mädchen stieß ihn ängstlich in die Seite.

“Bscht! Der Herr Pfarrer guckt!”

Das entwaffnete auch den Kritikus. Er strecke seine drei Pfennige wortlos hin und nahm wortlos dafür seinen braunen Zettel in Empfang.

An der Kasse schien’s einen kleinen Anstand zu geben.

Ein winziges Dirnlein streckte Mariechen ein Zweipfennigstück hin.

“Mein Mutter hot gesacht, ich wär’ als noch so klei’. Do wern zwei Pfenning auch genuch.”

Die Kleine sah so treuherzig drein. Mariechen zögerte. Sie warf einen hilflosen Blick nach dem Zelt.

“Vorwärts!” rief eine Stentorstimme von drinnen.

Drinnen ging’s anscheinend lebhaft zu. Tierlaute aller Art, Hin- und Herschubsen, widerspenstiges Wehren.

Der da “vorwärts” rief, hatte offenbar seine liebe Not, Ordnung zu halten. Man hörte es seiner Stimme an.

“Vorwärts! Anfangen!” rief er noch einmal.

“De Gustav !”

“De Pfarr – Gustav !” murmelten die Schaulustigen.

Und dann erwartungsvolle Stille. Jetzt schlug Erich die Zeltvorhänge zurück. “Ihr könnt nicht alle auf einmal hinein,” sagte er dabei. “Jedesmal fünf sollen gehen. Der Herr Meschaneriebesitzer wird alles erklären.”

Erich war sehr rot, stotterte, sagte Meschanerie statt Menagerie. Mit seinen acht Jahren war ihm das Redenhalten offenbar noch nicht geläufig.

Gustav und Mariechen hatten gut reden und schelten gehabt. Die waren schon zehn und zwölf Jahre alt und hatten viel mehr Welterfahrung. Er hatte vorher gewußt, daß es ihm so gehen würde.

Erich war sehr geknickt. All seine Willenskraft war ihm abhanden gekommen. Er konnte die geplante Ordnung von je fünf und fünf, die eintreten sollen, nicht aufrecht halten. In der atemlosen Erregung und Erwartung des Augenblicks achtete man gar nicht weiter auf ihn. Alle drängten zumal herzu. Und wer drin nicht Platz fand, der suchte vom Zelteingang aus einen Blick hinein zu erhaschen.

Auch Gustav und Mariechen waren dem Ansturm der Volksmenge nicht gewachsen. Ihnen ging’s wie manchem Festordner vor ihnen. Sie mußten das Unvermeidliche über sich hinbrausen lassen und konnten nur auf ihren guten Stern hoffen. Hier galt die Hoffnung zumeist der Dauerhaftigkeit der eingerammten Bohnenstangen.

Das Drängen, Schieben, Stoßen und Zerren der Menge war aber auch sehr gerechtfertigt. Da drinnen gab’s auch anscheinend Wunderdinge zu sehen.

Stumm, Kopf an Kopf gedrängt, standen sie und gafften. Gustav war alsbald wieder Herr der Lage. Mit ein paar milden Knüffen und Püffen versuchte er, sich Raum zu schaffen.

“Platz machen, verehrte Herrschaften,” sagte er überredend, “ich kann ja nichts erklären.”

Die verehrten Herrschaften grinsten bloß, wankten und wichen aber nicht.

“Alleh, Peter, Michel, Liesche, Platz gemacht !” Dazu ein paar derbe Knüffe. Das half.

Der Peter, der Michel, das Lieschen drängten zurück.

Der Herr Menageriebesitzer hatte Raum und konnte nun erklären. Er hob den Stock. Er sah würdevoll stattlich aus mit den Goldlitzen an der Hose, den Goldknöpfen an der Jacke und dem Helm auf dem Kopfe. An den Zeltwänden standen in Reihen verschiedene Käfige. Daß es einmal Kisten gewesen waren, sah man nicht. Sie waren mit allerlei bunten Lappen ganz wundervoll ausgeputzt und zugehangen. Die offene Vorderseite zeigte statt der Gitterstäbe aufgenagelten Gazestoff oder leichten Draht. Da war es denn freilich gut, daß dahinter keine Löwen und Tiger, sondern friedlichere Geschöpfe saßen.

Was jeder Käfig enthielt, zeigte eine aufgenagelte Inschrift. Die zu entziffern wäre den meisten etwas beschwerlich gewesen. Darum erklärte jetzt der Menageriebesitzer. Er fing bei dem ersten Käfig an.

“Hier ist die weiße Maus zu sehen. Eine seltene Abart der gemeinen grauen. Alle acht Stück in diesem -.”

“Ei, de hast doch bloß vier gehabt, Gustav. Woher haste denn de annere?”

Peter reckte neugierig den Hals. Michel stieß ihn in die Rippen.

“Angeschmiert mit Kreide,” flüsterte er hörbar. “De Gustav, deß is einer!” Allgemeines Kichern. Neugieriges Bestarren der kleinen gar nicht wohlriechenden Geschöpfe, die wie toll an ihrem Drahtgitter auf- und abfuhren.

Der Herr Menageriebesitzer ließ sich nicht stören. Toternst vollendete er: “Alle acht Stück also in diesem Käfig geboren.” Damit sagte er auch keine Lüge. Alle waren da geboren. DaB die letzte Brut grau ausgefallen war, war nicht seine Schuld. Er hatte für die Gelegenheit dem Mangel mit Kreide nachgeholfen.

“Hier ein junges hellrotes Riesenkanin. Kann, wenn es auswächst, einen Meter lang werden. Ungeheuer seltenes Exemplar.”

Die kleinen Mädchen drängten herzu. Das kleine Karnickel mit den roten Äuglein, so rot wie sein Fell, sah zu niedlich aus.

“So hew ich grad eins,” flüsterte Lieschen ihrer Nachbarin zu. “Bloß is meins weiß statt rot und wächst nit mehr.”

Die Buben lachten nur und stießen sich an. Der dritte Käfig! “Hier die Löffelente. Kommt nur in Nordamerika vor, wo sie so aus dem Ei schlupft.” Mit undurchdringlicher Miene wies Gustav auf den alten Zinnlöffel, den die Ente um den Hals gebunden trug.

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Tosendes Gelächter. – Den Scherz begriffen alle.

“Nummer vier: Afrikanische Sporengans. Die Füße sind besonders interessant.”

menagerie04Das ist wahr. Sie zeigten oberhalb der Waschelpfoten nach hinten zu sonderbare Auswüchse von Pappe oder dergleichen.

“Akkerat wie dem Herrn Owerförster sein’,” flüsterte Lieschen.

Sie meinte damit nicht die Füße, sondern die Sporen.

Die Sporen des Herrn Oberförsters, die der Sonntags wie Werktags, morgens wie abends unverweigerlich an den Stiefeln trug, immer zu Fuß, niemals zu Roß, waren nämlich ein Gegenstand besonderen Interesses der Dorfkinder.

“Un so schen buntig is se,” sagte Gretchen bewundernd. “Guck nor emal, guck, Irin und blau un rot. Ganz anners als wie unser.”

“Dumm Ding, die is auch aus Afrika,” rief Michel und zwinkerte mit den Augen.

“Ach so,” sagte Gretchen ehrfurchtsvoll gläubig. Das erklärte ihr zur Genüge die blauen, grünen und roten Striche, die die Gans auf ihrem Gefieder zeigte.

“Hier die Papageientaube,” fuhr der Erklärer unterdes fort. “Kommt nur in Asien vor.”

“Wunnervoll,” sagten Peter und Michel und stießen sich mit den Ellbogen, “ganz wunnervoll. Wenn se net so schen grin wär, kennt mer meine, se dhet als bei uns erum fliege. Gell, de hast en neie Farwekaste kricht, Gustav?”

Der Angerufene würdigte sie keiner Antwort. Er zuckte nur die Achseln und fuhr sehr ernst fort: “Hier, Nummer sechs. Ein seltenes Exemplar der Familie Ratte. Eine sogenannte Schiffsratte. War schon auf dem Schiff, mit dem Kolumbus Amerika entdeckte. Bitte sie genau zu betrachten. Wirklich höchst selten.” – Andachtsvoll, schweigendes Staunen. Dann Michel, der Spötter:

“Wie is mer denn? Ich mein als, die wär mer schon emal irgendwo uffgestoße.”

“Beißt, beißt!” weinte plötzlich Babettchen auf.

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Lieschen, die das Schwesterchen trug, war dem Käfig in bedrohliche Nähe gekommen. Babettchen mochte sich erinnern, daß ihr daheim einmal, als sie auf der Schwelle des Mühlraums saß, ein ähnliches Tierchen ein Stück Butterbrot aus der Hand gerissen hatte.

“Beißt, beißt!” greinte Babettchen noch einmal kläglich.

“Sei still, se den der nix dhun, deß is e ganzi annere,” tröstete Lieschen. “Horch, was de Gustav secht!”

menagerie06“Eine junge Riesenschildkröte. Kann zwei Meter lang werden. Kommt in Indien, Afrika, Amerika vor.”

“Ach! -” staunten die Zuschauer.

Eine Art Fabelwesen lag da in der Ecke des Kästchens.

Eigentlich sah man nur etwas silbern und goldig Glänzendes. Wie ein umgestülptes Schild im Kleinen. Drunter streckte sich zuweilen der mürrische Kopf einer Kröte vor. Der Herr Erklärer bohrte mit dem Stäbchen unter das Schild, offenbar um eine Bewegung in das Fabeltier zu bringen. Ein Satz, das Schild überschlug sich. Eine dicke ekle Kröte zappelte unter der ihr aufgezwungenen Zierde.

Allgemeines Gelächter.

“Ohne des Staniol-Dings hippt se bei uns im Garte erum,” lachte Michel.

“Bei uns auch! Weiß Gott, bei uns auch!” stimmte lachend der Chor ein.

Mariechen und Erich wollten zornrot losfahren. Sie fanden es abscheulich, daß die da an all ihren schönen Tieren etwas zu belachen und auszusetzen hatten. Gustav ließ es sich weiter nicht anfechten.

“Junger Brüllfrosch!” sagte er. “Kann wie ein Ochse brüllen.”

“Bloß, daß er’s nit dhut, gelle,” spöttelte Michel.

“Muß es erst lernen. Er ist noch sehr jung. Du hast auch nicht gleich gelesen, Michel, wie du auf die Welt gekommen bist, oder?”

“Ha, ha, ha, ha!”

Da dies jetzt noch Michels schwächster Punkt war, hatte Gustav die Lacher auf seiner Seite.

“Jetzt, meine Herrschaften, kommt der Vogel Phönix. Stammt aus Ägypten. Verbrennt sich immer wieder und wird immer wieder lebendig.”

“Ui jeh, ui jeh!” sagten Lieschen und Gretchen noch einmal.

“Ich bitte, die Farbenpracht zu beachten.”

“Ui jeh, ui jeh!” sagten Lieschen und Gretchen staunend.

“Kikeriki! Kikeriki!” lachten Peter und Michel. Es ließ sich nicht leugnen. Das farbenprächtige Märchentier hatte eine bedenkliche Ähnlichkeit mit dem Vogel, der in Gesellschaft seiner Hennen auf jedem richtigen Bauernhof zu finden ist. Aber sei dem wie ihm wolle, jedenfalls war die Kunst zu bewundern, womit dies grüngoldene, blaugelb und rotbunt schimmernde Gefieder hergestellt war. Es war des Künstlers Hauptstolz gewesen.

“Und nun kommen wir zu den seltensten Stücken der Sammlung. Ich bitte, näher zu treten.”

Ein dreiteiliger Vorhang im Hintergrund hatte schon lange die Neugier rege gemacht. Der Herr Erklärer schlug jetzt den einen Teil zurück. Ein junges Kälbchen schlummerte friedlich auf einer dicken Strohschicht. Beim Zurückschlagen des Vorhanges erwachte es. Dumm glotzten die unschuldsvollen Augen ins Leere. Sanft sagte es: “Bäh! Bäh!”

Allgemeines Hallo.

“Des kenne mer! Des kenne mer!

“Es ist ein junges Mondkalb, meine Herrschaften !”

Erneutes Hallo.

“Guck emol an!” sagte Michel.

“Ich heb gar nit gewißt, daß die Metzger lauter Mondkälber schlachte,” meinte Peter .

Alles lachte. Sogar Mariechen und Erich schmunzelten mit. Der Vorhang zur andern Seite wurde zurückgeschlagen. Ein Tier, das verzweifelte Ähnlichkeit mit Pfarrers gescheckter Liese, der Ziege, hatte, stand dort und drehte neugierig den Kopf. Darauf saß ein wunderbar ge- und verdrehtes Fabelgehörn.

Daß es dem Tier nicht ganz wohl bei diesem Schmuck war, sah man nur zu gut. Jeden Augenblick machte es Miene, sich dessen irgendwie durch Stoßen oder Anrennen zu entledigen. Das trug ihm jedesmal einen mahnenden Knuff von seiten des Herrn Erklärers ein.

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“Eine Antilope. Aus Afrika stammend. – Sehr selt -, Liese, willst du wohl!”

Liese hatte Miene gemacht, gegen ihren Verherrlicher anzurennen. Das Fabelgehörn geriet dabei bedenklich ins Wanken. Allgemeines Gelächter.

“Liese, Liese meck, meck, meck !” Liese stieg und bockte wie toll. Rasch zog Erich den Vorhang zu, um weiteres Unheil zu verhüten. Der Herr Menageriebesitzer stand nun vor dem Mittelvorhang.

“Ehe ich das letzte und wertvollste Stück vorzeige, bitte ich um Ruhe. Das ohnehin scheue Tier wird sonst noch scheuer.”

Erwartungsvolle Stille, leises Kichern. Hinter dem Vorhang, wohin Erich und Mariechen verschwunden sind, verdächtiges Wasserplätschern, Pusten, Schnauben.

“Jetzt, schnell!” hört man Mariechen flüstern.

Der Vorhang wird fortgezogen. Nicht enden wollendes Hallo. In Mutters bis zur Hälfte gefüllter Wasserbütte sieht man Jolly, den Haushund, mit Kopf und Schultern aus dem Wasser ragen. Er muß unterwärts mit den Pfoten auf ein Brett gebunden sein. Mariechen und Erich mühen sich von beiden Seiten, dies unter Wasser zu halten. Es muß harte Arbeit sein. Beide sind hochrot. Jolly jappt verzweifelt, wirft sich nach rechts und nach links, um loszukommen. Die großen braunen Augen in dem kleinen schwarzgelben Köpfchen starren ganz entsetzt drein.

Mariechen und Erich halten krampfhaft das Brett in schräg gesenkter Neigung unter Wasser.

“Der Seehund, meine Herrschaften. Höchst seltenes, wertvolles Exemplar. Phoca vitulina,” fügt der Erklärer noch zu größerem Verständnis bei. “Kommt in den Polargegenden vor. Am wohlsten ist ihm im Wasser.”

Wie zur Bekräftigung des Gesagten stummes, verzweifeltes Ringen dort in der Wasserbütte. Lustiges Lachen aller Zuschauer.

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“Scholliche, alleh daher, Scholliche!”

“Gsch, gsch, Seehundche, komm!”

Diese und ähnliche Zurufe werden laut. Peter und Michel hetzen am tollsten. “Gsch, gsch, Scholliche, Seehundche. Gsch, gesch! Doher! Komm!”

Kein Wehren, kein Mahnen der Menageriedirektion hilft. Nur immer lauter tönt’s:

“Seehundche, Scholliche, daher!”

Da nahte die Katastrophe. Ein wütendes Ringen, ein Ziehen und Zerren in der Wasserbütte. Das Wasser spritz nach allen Seiten über. Entsetzt weichen die Zunächststehenden zurück. Hartnäckig drängen die Hintermänner vor. Da ein Zerren, ein Reißen, ein Klatschen im Wasser. Jolly, der Seehund, ist frei! Beim Ausbrechen eines Löwen aus seinem Käfig hätte keine größere Panik entstehen können.

“Der Seehund! Huh, der Seehund!”

Alles will vor dem triefenden, pudelnassen Seehund flüchten. Alles schiebt dem Ausgang zu. Da – ein Poltern, ein Reißen, ein Stürzen!

Die Bohnenstangen geben nach – die Zeltwände senken sich. Sie begraben einen Knäuel von Lebewesen, die sich darunter wälzen, ringen, sich balgen, die lachen, kreischen, weinen, jammern, die krähen, blöken, schnattern, meckern und sonstige Angst- und Erregungslaute von sich geben.

Einzig Jolly, der Seehund, der Urheber des ganzen Wirrwarrs, hat sich befreit. Er setzt triefend, zeternd, kläffend mit eingekniffenem Schwanz, so schnell ihn die krummen Beine tragen, über den Hof, der Haustür zu. Dort erschienen eben Herr und Frau Pfarrer samt Katharine als Hilfs- und Rettungsmannschaft. Jolly, der Seehund, drängt hastig zwischen ihnen durch. Dort drinnen weiß er einen Bergungshafen in der Küche hinter dem Herd. Katharine hält dort stets ein Körbchen mit weichem Stroh bereit. Er weiß sich gerettet. Er schüttelt sich mächtig und kriecht dann ins Stroh. Soviel an ihm liegt, hat seine Laufbahn als Seehund hiermit ein Ende gefunden.

Nach fünf Minuten schon schläft er und schnarcht und träumt von Bratwürsten, von Ecksteinen, von irgend Angenehmem und Lieblichen. Ein Seehund spielt dabei jedenfalls keine Rolle. Dazu liegt er zu behaglich da. –

Draußen haben inzwischen die Rettungsmannschaften die bergende Hülle von dem Schauplatz des Unglücks gezogen. Da drunter sieht’s nun allerdings kraus aus, Kinder, Tiere, Kisten, Lappen, Stangen, alles unter und über einander in wirrem Knäuel. Hier ragen zappelnde Arme, dort ein weinendes Gesicht. Hier rafft sich einer auf, dort kommt einer erst recht zu Fall.

Kräftig faßt die Rettungsmannschaft zu.

Der Herr Pfarrer hebt dort zwei Bengel am Kragen hoch, die sich in inniger Umschlingung, zur Erhöhung der Lustbarkeit, am Boden wälzten.

Frau Pfarrer erbarmt sich der Kleinsten und streichelt und tröstet.

Katharine greift zu ohne Unterschied der Person und Sache. Stellt auf die Beine, was Beine hat, schiebt zurecht, was sich schieben läßt.

Endlich ist der Knäuel etwas entwirrt. Auch die seltenen Tierexemplare haben Luft gekriegt.

Das entflammt die Jagdlust.

Mit Hallo setzt, wer auf Beinen steht, hinterher, rappelt sich hoch, wer noch am Boden liegt.

“De Fenix! De Fenix!”

Michel und Peter suchen den Vogel Phönix zu haschen. Der rettet sich weise auf den Misthaufen. Im Nu scharen sich die Hennen gackernd um den Verlorengeglaubten und bestaunen sein fremdartig prächtiges Gefieder. Er hebt den Kopf noch einmal so stolz.

Die afrikanische Sporengans und die Löffelente schwimmen gerettet im Bach. Die Papageientaube sitzt auf dem Dach und putzt ihr Gefieder. Antilope und Mondkalb werden von Katharine der gewohnten Behausung zugeführt. Die Mäusejagd auf die in der Verwirrung ausgebrochenen acht seltenen Exemplare ist erfolglos, macht aber unglaublichen Spaß. Auch die Kolumbusratte ist verschwunden samt dem roten Karnickel. Frosch und Kröte bilden die letzten traurigen Überbleibsel der stolzen Tierschau. Gelassen hocken sie in ihren Behältern und harren der Dinge, die nun kommen werden.

Gustav und Erich verzogen zuerst bedenklich die Mienen bei diesem vollständigen Zusammenbruch des Unternehmens. Dann packte die Jagdlust auch sie und sie hetzten mit den andern um die Wette hinter den ausgebrochenen Bestandteilen der Menagerie her.

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Mariechen war die einzig Besonnene in dem wüsten Trubel. Sie hatte den Geldkasten erwischt und hielt ihn fest an sich gepreßt.

Das letzte jagdbare Wild war entkommen, die letzte Spur verweht. Ruhe trat ein nach dem Sturm.

“Wer will einen Apfel und ein Stück Brot?” fragte die Frau Pfarrerin.

Sie hatte sich diesen tröstlichen Schluß für das verunglückte Ende der Schaustellung ausgesonnen. Die kummervollen Mienen namentlich ihrer Drei taten Ihr leid.”

“Ich, Ich, Ich!”

Zahllose Ichs beantworteten Ihre Anfrage. Lächelnd winkte sie Katharine. Die maulte ein bißchen, half aber doch tüchtig beim Brotschneiden und danach beim Austeilen.

Als dann alle Brot und Apfel hielten und strahlend hineinbissen, schlug Peter vor:

“Alleh, Gustav, mer halte e Schlacht uff der Bachwies”. Die Mädercher kenne zugucke!”

Mit Hallo wurde eingestimmt. Getröstet zogen alle ab.

“Es war doch ganz wundervoll heute,” meinte Gustav beim Gutenachtsagen. “Das Letzte war noch das Schönste, Vater .”

“Na, Gott erhalte dir den frischen Mut bei jedem künftigen Zusammenbruch, mein Sohn,” lachte der.

“Ich bin nur froh, daß wir das Geld gerettet haben,” sagte Mariechen. “Eine Mark vierzig, Papa! Die armen Leute, werden die sich freuen!”

Wären es vierzig Tausend gewesen statt einer Mark vierzig, Mariechen hätte nicht strahlender aussehen können. Vater schmunzelte und nickte nur. Erich sagte gar nichts. Er gähnte und rieb sich mit den Fingerknöchelchen die Augen.

“Zu Bett, Kinder, rasch zu Bett! Es war ein heißer Tag heute!”

Mütterchen rief’s und nahm Erich bei der Hand.

So endete der große Tag.